Thursday, January 6, 2011

Morpheus' Brille

Was ist ein Traum? Zwei Antworten sind im Umlauf:
1. Im Traum passiert mehr oder weniger das gleiche wie im Wachleben – nur woanders.
2. Im Traum finden prinzipiell andere Ereignisse statt als im Wachleben.


Zur ersten Deutung gehören Trauminterpretationen à la „Im Traum bereisen wir eine parallele Welt“ oder „Im Traum entfaltet sich unser wahres Selbst“: Grundsätzlich Dinge, die man auch wachend durchführen kann.

Die neuesten Ergebnisse der Schlafforschung belegen die Richtigkeit der zweiten Deutung. Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Schlaflabor-Probanden, die geweckt wurden, sobald sie begannen zu träumen (wann dies stattfindet, lässt sich anhand der Beobachtung von Hirnströmen feststellen), anschließend große Probleme damit hatten, sich an die Ereignisse vor dem Zu Bett gehen zu erinnern. Träume spielen also bei der Bildung von Erinnerung eine Rolle.

So ist auch die alte Frage, warum man sich nicht an seine Träume erinnern kann (es sei denn man träumt unmittelbar vor dem Erwachen), gelöst: Wenn man Träume mit etwas aus dem Wachleben vergleichen sollte, dann mehr mit dem Akt des Erinnerns selbst, als mit etwas, woran man sich erinnert.

Ein Bild zur Verdeutlichung: 

Stell Dir vor, Du wärst so kurzsichtig, dass Du ohne Deine Brille nichts, gar nichts sehen kannst. Von Zeit zur Zeit geht Deine Brille kaputt. Zufällig befindest Du Dich jedesmal, wenn die Brille zerbrochen ist, in der Nähe einer Brillenwerkstatt. Du gehst hinein und wirst – blind wie Du bist – von einem freundlichen Mitarbeiter hereingeführt und unterhalten, während jemand anderes Deine Brille repariert. Du bekommst sie zurück und verlässt die Brillenwerkstatt.

Das Kaputt-Gehen der Brille entspricht dem Einschlafen, die Werkstatt dem Schlaf, die Reparatur dem Traum, die Dunkelheit dem fehlenden Erinnern. Man kann sich nicht an die Zeit in der Werkstatt erinnern (man sieht dort nichts), weil das, womit man sich erinnert (womit man sieht) dort erst hergestellt wird. Alles, woran man sich erinnert, sind die Traumereignisse kurz vor dem Aufwachen: Wenn man die Brille schon zurück bekommen hat, sich aber immer noch in der Werkstatt befindet. 


Ein weiterer Grund, warum wir uns nicht an unsere Träume erinnern, wird nun deutlich: Man erinnert sich sowieso nie an die Geschehnisse in ihrer nackten Faktizität; Menschen sind nun mal keine Videokameras, die emotionslos aufzeichnen, was sie sehen und es dann genau so abspielen können. Was am Tag passiert ist, wird in unserer Erinnerung geglättet, logisch gemacht und so lange angepasst, bis es in unser Weltbild passt. Die gemilderte Erinnerung ist das Ergebnis des Traums, im Traum selbst muss das Erfahrene aber zunächst ungefiltert, in seiner ganzen Brutalität und Ehrlichkeit vom Brillenschmied angefasst und in allen Teilen einzeln beurteilt werden. Dies kann traumatisch sein. Dadurch, dass wir uns nach dem Aufwachen nicht mehr daran erinnern müssen, erspart uns unser weises Inner-Ich die Begegnung mit dem Realen.

4 comments:

  1. Ein Ein- oder Wider- je nach Anspruch des Blogs:

    Du hast die von dir selbst aufgeworfene Frage leider nicht beantwortet. "Was ist ein traum?" Die zwei häufig gebrachten Antworten machen Aussagen, was IM Traum passiert, aber nicht darüber, WO und WAS denn dieses ist, WORIN es passiert. Auch die Analogie liefert nur eine Erklärung für die Erinnerungslücken.

    Die im Artikel beschriebenen Eigenschaften von Träumen könnte man so zu einer Bestimmung zusammenfassen, garniert mit Belegen aus eigener
    Erfahrung:
    1 a) - Träume sind Unterbrechungen von Unterbrechungen des Bewusstseins, eine Wiederaufnahme des Bewusstseins im Schlaf.
    -> Man ist sich seiner selbst - in vielen der durchaus erinnerten Träume - bewusst, hat eine Ich-Perspektive auf die Geschehnisse, trennt
    zwischen sich und der Umwelt, hat Ziele und verfolgt sie.
    b) - Die Aufnahme des Bewusstseins und Verstandes ist nur partiell.
    -> Es passieren unlogische und unmögliche Dinge, die erst im Wachzustand als unlogisch bzw. unmöglich erkannt werden - Tiere sprechen, man
    tut physikalisch Unmögliches etc. Die Erinnerung an die Außenwelt und wer man dort ist, ist oft kaum vorhanden. Man erinnert sich nicht,
    dass die letzte Handlung bis dahin das Zubettgehen war. Man erinnert sich im Traum selbst nicht daran, wie man in die erlebte Situation
    gekommen ist. Man weiß meistens nicht, DASS man träumt und erlebt daher oft die Gefühle - z.B. bei Bedrohung, Gefahr - wie im Wachzustand.
    2) - Träume sind eine - möglicherweise wirre - Abfolge von Bildern, Tönen etc. zusammengestzt aus Bewusstseinsinhalten des Wachzustandes -
    man träumt von den Erlebnissen des Tages, der Kindheit oder von der bevorsteheneden Prüfung, jedoch kaum von nicht existenten Dinge wie
    Roktusmongokeln - und diese werden miteinander verknüft, in einen kausalen Zusammenhang gebracht.
    3) - Träume sind Ausdruck einer inneren Wahrnehmungwelt, losgelöst von der äußeren, durch die Sinne erfahrbaren. Im Wachen, erleben wir die
    Trennung von innen und außen, prüfen die beiden auf Übereinstimmung oder Dikrepanz, und merken wie sie einander beinflussen - die von dir
    angesprochene Abwesenheit der Wahrnehmung "der Geschehnisse in ihrer nackten Faktizität". Im Schlaf ist zumindest das Äußere ausgeschaltet,
    wirkt in das Innere kaum oder gar nicht mehr hinein. Aber auch die Wirkung des Inneren auf das Äußere ist blockiert, der Körper erfährt
    eine gewisse Lähmung für die Dauer des Schlafes, abgesehen von den Augen, die in der sog. REM-Phase den geträumten Augenbewegungen, dem
    Blick im Traum, folgen.
    In dieser Innenwelt ist das Bewusstsein als prüfende Instanz nicht "richtig" oder gar nicht aktiv, wie in 1b) beschrieben erkennt man die
    Fehler und Unmöglichkeiten nicht oder nur selten.

    4) - Zumindest für Träume unmittelbar vor dem Aufwachen gilt, dass sie meist mit einer Diskontinuität des Traumablaufes enden -- man fällt
    und müsste sterben; man wird sich der Absurdität der Ereignisse bewusst und erkennt, dass man träumt; der das Aufwachen verursachende Reiz
    - Sonnenlicht, Weckerläuten, Berührung - wird unignorierbar, überstiegt eine vom Nervensystem gesetzte variable Schwelle und bewirkt eine
    Reaktion auf ihn. Wahrscheinlich sind die das Aufwachen verursachenden Reize auch Auslöser dieser Träume, in denen sie in einem scheinbar
    kausalen Zusammenhang gebracht werden. Wenn man die zeitweise erhöhte Wahrnehmung in Gefahrensituationen bedenkt, erscheint ein subjektiv
    minutenlanger Traum auch in der einen Sekunde zwischen zuknallender Tür und Aufwachen verständlich.
    ...

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    1. Das sind phänomenologisch alles sehr valide Aspekte, aber der Punkt ist, dass bestimmte Fragen, die im Wachbewusstsein zu stellen sinnvoll ist ("Wo bin ich gerade?", "Warum mache ich das gerade?" et cetera), im Traum keinen Bezugsrahmen haben und damit irreführend sind. Der Traum ist eben kein anderer Ort des Bewusstseins, sondern etwas, das das Bewusstsein erst ermöglicht: Er ist dem Bewusstsein somit vor- und nicht nachgelagert (er ist also weder defizitäre noch erhabene Wirklichkeit, sondern etwas, war Wirklichkeit herstellt). Der Traum verhält sich zum Wachbewusstsein wie die Farbe zu einem Gemälde.

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  2. ...
    Mit diesen mir bisher klargewordenen Eigenschaften von Träumen erscheint mir das Bild der Brillenwerkstatt höchstens für die Träume kurz
    vor dem Aufwachen passend.
    Einerseits träumt man über den ganzen Schlaf verteilt mehrmals, andererseits gibt es nachweislich Wach- oder luzide Träume, in denen das
    Bewusstsein vollständig wird und man sich des Träumens und der Existenz der Außenwelt bewusst wird, belegt - wie im Artikel auch beschrieben
    - durch vorher abgesprochene und von außen beobachtbare Augenbewegungen des Träumenden. Der Kurzsichtige wird unvermittelt sehend...
    Siehe dazu
    http://de.wikipedia.org/wiki/Luzider_Traum und das dort verlinkte Wikibook samt Anleitung.
    Und weitererseits träumen Hunde anscheinend auch, während Meeressäuger ihr Hirn im Schichtbetrieb arbeiten lassen.
    Ich finde den Vergleich mit einem tüchtigen Besäufnis passender: Man nimmt kaum etwas wahr und das nur verzerrt, es passieren seltsame
    Dinge um einen herum und hinterher kann man sich kaum erinnern...

    Interessant finde ich die Idee des Glattbügelns der Erlebnisse durch Träume, das in Konsistenzbringen mit dem Rest. Das erinnert mich an ein russisches Sprichwort: "утро вечера мудренее" - der Morgen ist weiser denn der Abend.
    Hier ist zu beachten, dass auch Schlüsse gezogen werden und das Weltbild am Morgen ein anderes sein kann.

    Nicht gefallen tut mir die Schlussfolgerung, dass wir Menschen in unserer Zerbrechlichkeit geschützt werden müssten. Wenn das der Fall wäre, wie hätten unsere Vorfahren aus gefährlichen Situationen gelernt und die nächste überlebt? Auch setzt dies eine das Geschehene in seiner Brutalität und Gefahr beurteilende Instanz voraus, die mehr versteht als man selbst, eigene Ziele verfolgt und einem die Erinnerung an etwas nehmen kann, um uns die "Begegnung mit dem Realen" zu ersparen, das es selbst ja anscheinend erträgt und vor allem wahrnimmt und kennt - woher denn? Diese Instanz hat die Eigenschaften eines Bewusstseins mit Willen: Verstand; Verständnis und Bild von sich selbst, der
    Welt und der Geschehnisse sowie ihrer Wirkung; Ziele, die es sich setzt.

    Dann kann man doch gleich bei sich selbst als diesem Bewusstsein bleiben, die Träume praktisch erforschen, sich klar machen, dass der freie
    Wille ein Pleonasmus ist und den Gültigkeitsbereich dieser Freiheit bis in den Schlaf und die Träume ausdehnen.

    Achja, ein uns beiden bekannten Patrick sagte mir einmal vor dem Einschlafen "Bis gleich.", was ich nach dem Aufwachen noch seltsamer fand.

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  3. Ebenso wie die Bewegung eines Motors nirgendwo "hingeht", wenn man ihn ausstellt, sondern einfach weg ist, geht auch das Bewusstsein nirgends hin, wenn man schläft, sondern ist einfach weg. Daher ist Patricks Verabschiedung durchaus legitim. Oder?

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