Ungarn, Auslandsjahr 2008. Nach einer durchzechten Nacht in Budapest fahren Sandor und ich in den Morgenstunden mit dem Zug zurück nach Debrecen. Schwiegend, dämmernd, alkohol-zerlegte Teile unser Selbste zusammen setzend schauen wir aus dem Fenster. Auf der Höhe von Hortobagy holt Sandor sein Klappmesser aus seiner Jacke und sagt:
"Ich werde mich ändern, ich will ein anderer Mensch werden."
Sind wir allein in dem Abteil? Ich schaue über die Sitze und vergewissere mich dessen. Dass Sandor mit seinem Messer herumfuchtelte, hat uns schon paar Mal in Schwierigkeiten gebracht.
Wird es dieses mal aber nicht tun, außer uns ist keiner hier.
"Warum?", frage ich. Mir fällt sofort eine Vielzahl von Gründen ein, warum ich selbst jemand anders werden wollte: Prüfungsfäuste im Nacken, kleiner Stress, großer Stress, verfehlende Ziele und das Unbehagen über die Eckigkeit der Welt am Morgen.
"Ich lebe am Leben vorbei", sagt Sandor, "ich führe nicht das Leben, das ich führen will", er spielt mit dem Messer herum, klappte es zu, klappte es auf, "ich habe jetzt dieses Buch über Handlinien gelesen, das hier ist das Problem", damit zeigt er mit der Spitze des Messers auf die dicke, dem Daumen am nächsten liegende Linie auf seiner Hand.
"Das hier ist die Lebenslinie. Bei mir ist sie unterbrochen und spaltet sich. Das ist der Grund, warum ich nicht lebensbezogen genug bin. Das ändere ich jetzt."
Er sticht sich in die Hand, zieht die Linie nach, macht sie durchgezogen und gerade.
"Ich verstehe", sage ich und überlege, ob Sandor das Messer jemals geputzt hat (er benutzt es sonst, um Äpfel zu schälen).
"Das hier ist die Kopflinie, guck mal, sie biegt sich von meiner Handlinie weg. Menschen, bei denen das so ist, verlieren sich oft in Hirngespinsten und Tagträumen. Problem gehabt, Problem gelöst." Ein weiterer blutiger Schnitt und seine Kopflinie schmiegt sich nun an die Lebenslinie an.
"Ich weiß nicht, ob das wirklich so einfach ist, sich zu ändern", ich kann den Blick nicht von seiner Selbstverstümmelung abwenden.
"Doch, ist es. Man muss es nur wollen. Letztes Problem: Herzlinie", Sandor zeigt er auf die Falte in seiner Handfläche, die zwischen den beiden vorigen liegt, "sie ist bei mir schnurgerade. Das steht für ein reines Herz und Spontanität. Das ist mir schon oft in die Quere gekommen. Ich will überlegter, distanzierter und moralisch flexibler sein."
Ein letzter Schnitt und Sandors Herzenslinie kringelt sich nun, nimmt Abkürzungen und Umwege auf seiner Hand.
"So", sagt er und hält die Hand hoch, "ich bin jetzt ein anderer Mensch."
Sandor presst die Hand an das Fenster, sie hinterlässt ein blutiges Muster, in etwa den Buchstaben W.
Dahinter gehen Regenfaden auf langen dünnen Beinen an der ungarischen Steppe vorbei, von der sich die Nacht langsam hebt.
Später am diesen Tag telefoniere ich mit meinem Bruder, der in Breslau Medizin studiert und erzähle ihm von meinem seltsamen Erlebnis im Zug. Er lacht: "Schöne Idee, das ist aber Quatsch. Die Haut in der Handfläche ist sehr dick, fast dicker als die Haut auf dem Handrücken. Ein Schnitt, der die Handlinien umschreiben würde, müsste so dick sein, dass er die darunter liegenden Sehnen und Muskeln durchtrennen würde. Du wärst dann vielleicht wirklich ein anderer Mensch, aber Du könntest Deine Hand nicht mehr bewegen."
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