Thursday, December 30, 2010

Gib mir ein Zeichen, Herr!

Die Linien auf der Hand, das Sternenbild, unter dem wir geboren wurden, die Zahl, die uns immer einfällt, die Tarotkarte, die wir stets als erstes ziehen: Zeichen der Zukunft, so die zeitgenössische Esoterik, und Zeichen, die die Wahrheit über unser Selbst verraten. Die Zeichenlehre des New Age ist jedoch nicht falsch, sondern irreführend, insofern als sie eine bestimmte Frage ausschließt, nämlich: Was ist kein Zeichen?

Man muss lange überlegen, bis einem etwas einfällt, das kein Zeichen ist (Werbung in der Post, Zahnschmerzen, Tapetenmuster). Und zerrinnt es, kaum dass man länger den Blick darauf richtet: Alles ist ein Zeichen (und sei es für Konsumobssesion, die Materialität des Menschen und seine abnehmende Bissigkeit - und wer kann garantieren, dass man im Tapetenmuster, systematisch suchend, nicht doch eine Botschaft fände?).

Sobald der erste nackte Affe sprechen konnte, sprachen die Dinge zurück: Alles murmelt.
Jeder Gegenstand, an dem ich auf dem Weg vom Aldi in die Bibliothek vorbeifahre, kann mir etwas mitteilen, wenn ich ihm zuhören will. Nicht nur Plakate, die auf Konzerte und Konzerne verweisen, sondern auch Bäume ("Sprich mir vom Alter, Bruder Baum"), Straßen ("Geh mit mir, Weg"), Wolken ("Der Schlittschuhläufer auf einem gefrorenen Himmel hinterlässt eine Schrift im Wolkenalphabet") und Zivilisations-Krimskrams.

Chaos, Information-Overkill, nah an Schizofrenie. Wie also sinnvoll Zeichen setzen?


Das Gegenteil von Information ist nicht Unordnung, sondern Zufall. Indem man die primären (grundsätzlichen, zB "Sonne bedeutet Stärke", im Gegensatz zu sekundären Zeichen, zB "Sonnenfinsternis bedeutet Schwächeanfälligkeit") Zeichen mit einer zufälligen Bedeutung belegt, überlistet man das unendliche Murmeln der Symbole. Zufällig, ohne mir etwas dabei zu denken, lege ich fest, dass die Zahl 2 für den Mann steht und die Zahl 3 für die Frau. 

Daher ist der Vorwurf gegenüber der katholischen Kirche, sie halte an zufälligen und/oder historisch gewordenen Riten und Symbolen fest, falsch: Genau dadurch, dass sie das tut, macht sie ebendiese Zeichen für den Menschen heilig. Für Gott ist das Kreuz kein heiligeres Sinnbild als ein Dreieck oder das Batman-Symbol. 

Wednesday, December 15, 2010

Für genau eine Kippe

In der Simpsons-Folge „Lisa the Skeptic“ verkündet ein Engeln den Bewohnern Springfields, dass die Welt am Folgeabend um zwanzig Uhr untergehen wird. Warum ausgerechnet um 20:00 Uhr? 

Die Uhrzeit ist ein beliebig austauschbares Element, aber diese Beliebigkeit selbst ist nicht austauschbar, sondern 
entscheidend für unseren Begriff von Weltende/Apokalypse. Den genauen Umständen der Apokalypse wohnt stets etwas Zufälliges inne. Darum geht die gängige Kritik an der (grob missverstandenen) Maya-Prophezeiung, die Welt würde 2012 enden, (nämlich „Warum ausgerechnet 2012 und nicht früher oder später?“) an der Sache vorbei: Jedes festgestellte Datum (und jede Uhrzeit) der Apokalypse ist zwingend kontingent. 

Wenn man im Flugzeug die Durchsage

„Liebe Fluggäste, wie Sie vielleicht bereits gemerkt haben, sind nun auch unsere Ersatztriebwerke ausgefallen. Wir werden in zwischen neunzig Sekunden und zwei Minuten in einem Flammen-Inferno auf dem Erdboden zerschmettern, bedanken uns für Ihren Flug mit xy und wünschen Ihnen eine gute Zeit in einem eventuellen Nachleben“ 
hört, so ist diese Situation eben nicht mit dem Weltende vergleichbar, weil hier die verbliebene Zeit determiniert (und damit das Gegenteil von 'zufällig', nämlich 'sinnlos') ist.
Zwei Minuten, das reicht für eine hastig gerauchte Kippe.

Das konventionelle Apokalypse-Verständnis ist also naiv. Wie nehme sich ein den tatsächlichen Gegebenheiten angemesseneres Welt-Ende-Bild aus?
Folgen wir Walter Benjamin und stellen fest, dass das Unglück-am-Ende-der-Zeit nicht darin besteht, dass die Kontinente in das lava-öse Erdinnere abrutschen, sondern dass es so weiter geht wie bisher - das ist die Katastrophe.

Dass sich nichts ändert, sondern das falsche Leben weitergelebt wird, um jeweils ein neues Kalenderjahr end-los verlängert, ist, der das wahre Leben, die Heimkehr der Seele zu den „unsterblichen Landen westlich des Meeres“, verhindernde Notstand.

Daher rettet uns weder ein Held noch nachhaltiges Wirtschaften vor dem Untergang der Welt. Das einzige Mittel, die Apokalypse abzuwenden, ist der Griff zur Notbremse.