Es gibt eine Sache, die man wissen muss, wenn man Wittgenstein liest: Er hat eine frühe Phase und eine späte Phase und die beiden unterscheiden sich. Er unterscheidet sich in jeder dieser beiden Phasen massiv von dem Wittgenstein, der er in der jeweils anderen Phase ist. Zu jeder Phase gehört ein Buch: Zur frühen der
Tractatus Logico-Philosophicus, zur späten die
Philosophischen Untersuchungen.
Im
Tractatus Logico-Philosophicus versucht Wittgenstein die einzelnen Elemente von Sprache und Wirklichkeit herausarbeiten und aufzuzeigen, wie sie sich aufeinander beziehen; er will beweisen, dass der logische Aufbau der Welt den logischen Aufbau der Sprache spiegelt (sogenannter
Logischer Atomismus). Der Wittgenstein des
TLP ist ein großer Fan vom Zurückgehen auf Grundbausteine. Das ist seine Methode und das meint er, wenn er zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben von Analyse spricht. Dahinter steckt eine Bevorzugung der Tiefe gegenüber der Oberfläche. Das kann man ihm nicht vorwerfen; das ist in Europa ein tiefsitzendes kulturelles Vorurteil; nämlich, dass Oberfläche etwas schlechtes und Tiefe etwas gutes sei. Ständig wurde in der Philosophie auf die "Tiefenstruktur" verwiesen: Im Strukturalismus, bei Chomsky, in der Tiefenpsychologie. Der frühe Wittgenstein würde sagen: Etwas zu verstehen, heißt, es zu analysieren: Also etwas, das sich unter der Oberfläche befindet, nach oben zu heben.
Der späte wird unter "Verstehen" etwas anderes, naja, verstehen. Nämlich: Verstehen als Besinnen. Für den späten Wittgenstein bedeutet Analyse das Gewinnen einer Übersicht. Darum geht es dann in den
Philosophischen Untersuchungen. Da betont Witty nämlich die positive Bedeutung der Oberfläche. Damit meint er jetzt nicht, dass man sich auf die Oberfläche beschränken und nicht mehr unter die Oberfläche blicken sollte. Er weist nur bescheiden darauf hin, dass es hier offenbar ein Muster gibt, dem gemäß die Erkenntnis funktioniert. Die Frage, ob die Welt und Sprache
wirklich aus kleinsten Einheiten zusammengesetzt ist, lässt Wittgensteinski einfach fallen.
Im
TLP hat Wittgenstein den Eindruck, er hätte die Regeln der Logik entdeckt. Später ist er sich da nicht mehr so sicher. Präziser: In den
PU stellt er fest, dass Regeln eine gesellschaftliche Praktik sind. Also etwas, das sozial konstruiert wurde. Die soziale Praxis ist damit das Primäre. Aus dieser Perspektive fragt er nun, welchen Stellenwert Logik haben soll, wenn auch ihre Regeln nicht universell gültig, sondern konstruiert (eben
nur eine Möglichkeit) sind.
An dieser Stelle wirft Habermas ihm vor, dass das Setzen von gesellschaftlicher Praxis als Begründung von Regeln auf Willkür und Beliebigkeit hinausläuft. Ja, ist halt so, sagte Derrida später, die Alternative ist entweder Logozentrismus ("Die harten Regeln der Logik sagen uns, wie's is'") oder Unverständlichkeit ("Wir haben unsere Regeln - andere haben andere - es spielt keine Rolle").
Manchmal ist Wittgensteinewitsch etwas vernagelt, beziehungsweise er stellt etwas eigentlich ganz banales als große Erkenntnis dar. Zum Beispiel, wenn er feststellt, dass es einen Gegensatz zu geben scheint zwischen dem Wesen der Sprache und dem Alltagsgebrauch der Sprache. Er identifiziert eine essentialistische Interpretation dieser Beobachtung ("Es gibt den Kern/Informationsgehalt eines Satzes und darum herum liegt so eine Art Wortnebel, den es zu lichten gilt") und eine anti-essentialistische ("Es ist nicht möglich, den objektiven Kern eines Satzes auszumachen"); entscheidet sich aber nicht für die eine oder andere, sondern versucht, die beiden in eine Art Dialog treten zu lassen.
Kann man sagen, dass der späte Wittgenstein ein Phänomenologe ist? Auf jeden Fall interessiert er sich mehr für das Phänomen selbst, statt etwa für seine Struktur. Das als philosophisches Forschungsprogramm auf Deutsch durch zu ziehen, ist nicht einfach: Im deutschen Wort "Erscheinung" steckt ja schon der Platonismus. Etwas er-scheint (das heißt, die Erscheinung ist nicht das nicht-scheinende, also nicht das echte).
Ein Beispiel: Den Sinn einer Kurbel begreift man nicht, indem man die Kurbel analysiert, sondern nur, wenn man die Maschine als Ganzes betrachtet.
Der späte Wittgenstein würde (und zwar im Gegensatz zu Carnap) nicht Heidegger verbieten, sondern nur sagen, dass man mit ihm vorsichtig sein muss. Eine gänzlich logische Sprache wäre lebensunfähig - dass unsere Umgangssprache unlogisch ist, macht unsere Kultur möglich. Das ist auch ganz wichtig, festzuhalten: Der späte Wittgenstein verbietet Analyse nicht, er findet sie nur nicht als zur Wahrheitsfindung absolut unabdingbar. Eine Richtigkeit der Analyse orientiert sich nicht an einem "Wesen" des Dings. Die logische Analyse tut so, als würde sie nur etwas zerlegen, tatsächlich erzeugt sie etwas, bei der Analyse werden die zu analysierenden kleinsten Teilchen erst hergestellt. Der Irrtum des
TLP lag darin, zu glauben, alles sei analysierbar nach der Weise des zu reinigenden Kristalls.
Wittgenstein ist nicht grundsätzlich gegen die Frage nach dem Wesen (vgl. PU #92); man müsse sich nur immer des Kontextes klar sein. Man kann nicht unterstellen, dass überall ein Kristall, bzw. ein Wesen drin ist. Wittgenstein sagt nicht, dass die logische Analyse falsch ist, sondern dass sie kontextualisiert werden muss. Wittgensteins Lösung ist, dass wir einfach schauen, wie Sätze tatsächlich funktionieren (statt darauf, wie sie funktionieren sollten).
Es gibt keine Hierarchie der Worte.
Alle Worte sind gleichwertig.
Die
PU sind nicht unbedingt leicht zu lesen. Man fragt sich oft, warum er nicht einfach sagt, was er meint: Titten auf den Tisch! Wittgensteinenstein ist jedoch der Ansicht, dass Dinge, um die es ihm geht, nur in der
Bewegung des Denkens erfassbar sind. Man kann sie nicht nennen; man kann nur reden und dann ist ein bestimmter Aspekt des Aktes des Redens das, worum es ihm geht. Deswegen kann man seine (späten) Texte auch nicht ohne weiteres auseinanderfrickeln und dann Lexikon-Eintrag-mäßig anordnen: Dann ginge was verloren.
Damit steht er in einer Reihe mit Philosophen wie Platon oder eben Derrida, dieser Partynase. Die beide schreiben Dialoge oder dialogartige Texte, weil sie wollen, dass der Leser selbst denkt. Bei Witty ist der Focus ein bisschen anders: Er glaubt, dass, je nachdem, von wo aus man blickt,
dieses oder
jenes die Wahrheit ist. Das Dialogische bei Wittgenstein kommt außerdem daher, dass er immer versucht, die Position seines Gegners mitzudenken.
Dabei ist das mit dem Gegner so eine unklare Sache. Es ist keineswegs klar, wer sein Gegner ist und wogegen Wittgensteinski da gerade eigentlich anschreibt.
Gilt übrigens auch für Derrida.