Tuesday, May 31, 2011

Läuft

Konrad Wiese schaut unter buschigen Augenbrauen hinweg auf sein gelb-schwarzes Dienstfahrrad. Mittlerweile hat er schon so viele Teile daran ausgetauscht, dass es nichts mehr mit dem Fahrrad gemein hat, das er vor zwanzig Jahren zur ersten Dienstfahrt bestieg. Gestern bekam er einen Kündigungsbescheid. Wegen Alkoholismus. Naja.

Konrad steht vor „Andys Dorfschenke“, auf dem Parkplatz. Die Tafel mit dem „Tipp des Tages“ ist noch nicht aufgestellt, Andy macht erst um eins auf. Konrad denkt nach. Dann greift er tief in seinen Postsack und holt so viele Briefe heraus, wie er mit einer Hand halten kann. Er wirft sie in den Rinnstein. Einen nach dem anderen.


Die Zeitung sagt, es sei Dienstag. Ich zweifle daran, denn dienstags kommt immer ein Brief von Wolfgang. Wolfgang ist da sehr penibel, verlässlich wie eine Uhr, wenn kein Brief kommt, ist nicht Dienstag. Ich blicke zu dem Stapel alter Briefe auf dem Bücherregal: Gut, dass es die Post gibt. Gedruckt, beschrieben; Papier bietet Widerstand: Reißt und schneidet in die Fingerkuppen, es erinnert mich an Wolfgang - ein widerspenstiges Relikt aus einer anderen Zeit. 

Mickey fühlt sich ein wenig unwohl. Der Mann auf dem Stuhl wackelt hin und her. Er könnte umkippen. Was er nicht kann, ist schreien, denn Wagner hat seinen Mund mit Klebeband zugeklebt. Er kann sie auch nicht sehen, denn der Mann hat einen Kissenbezug auf dem Kopf. Sie stehen im Halbkreis um ihn herum. Die Ratlosigkeit in ihren Stimmen hallt traurig von den kahlen Kellerwänden wieder. Mickey würde gerne nach oben in seine Wohnung gehen und das Ganze einfach vergessen. 

„Wo ist der Brief?“, fragt Wagner.
Der Mann schweigt – logisch.
„Der Brief – unser Brief – ist nicht in deinem blöden Sack. Wo ist er?“
Der Mann schweigt weiter. Wagner will auch erstmal keine Antwort, was er will, ist, dass sich der Typ Gedanken macht. Der Kellerraum ist absolut leer, bis auf sie, den jungen Typen und seinen Sack, der leer auf dem Boden liegt.
„Lass mich mal“, Dimitri schiebt Wagner zur Seite und holt eine CZ 75 aus der Tasche.
„Whou, whou, whou“, Mickey wird mulmig, „immer mit der Ruhe, wir wollen niemanden umbringen!“
„Halt die Klappe, du Idiot“, flüstert Dimitri, „ich werde ihm nur ein bisschen Angst einjagen, ganz easy, die Waffe ist noch nicht mal entsichert.“
Er wendet sich an den Mann in der Postuniform und spricht laut, da dieser ihn ja nicht sehen kann.
„Also, mein Freund, wir können hier noch den ganzen Tag … “
Weiter kommt er nicht, weil sich ein Schuss löst und den Oberschenkel des jungen Postboten trifft.

Ich sitze am Frühstückstisch als das Handy klingelt. Auf dem Display erscheint „Wagner“. Wenn Wagner klingelt, sollte man eigentlich gar nicht erst dran gehen, dass gibt immer nur Ärger. Ich lasse es klingeln. Wagner erkennt man schon am Klingeln selbst: fordernd und dringlich. Ich stelle den Ton aus, woraufhin es in meinen Gedanken weiterklingelt.

Es hört auf. Ich frühstücke weiter. Die Türklingel schellt. Ich überlege sorgfältig, was zu tun ist, entscheide mich dann doch für das Falsche und öffne die Tür. Im Windfang steht Wagner.

„Haaaallllloo Peeeteer!“, Wagner strahlt, wie immer, ich habe Wagner noch nie niedergeschlagen gesehen.
„Hallo“, sage ich und achte darauf, kein Ausrufezeichen in meine Stimme zu legen.
„Dir ist vielleicht aufgefallen, dass heute keine Post gekommen ist. Oder?“, fragt er.
„Ja.“ In Wagners Gegenwart gebe ich mich immer abgeklärt und betont erwachsen; ich habe keine Ahnung wieso.
„Blöd, oder?“
„Ja, sehr.“ Ich hoffe, der Brief vom Wolfgang kommt noch.
„Mmmh – hm. Sehr blöd.“ Danach kurzes Schweigen, bevor er wieder ansetzt:
„Die Sache ist nämlich die, wir haben den Postboten.“
„Was soll das heißen: ihr habt ihn?“
„Willst du mich vielleicht hereinbitten? Ein Kaffee wäre jetzt toll!“
„Nein.“
„Gut, dann nicht“, sagt Wagner, ein wenig verärgert, aber nicht sehr, „jedenfalls solltest du kommen und uns ein bisschen unterstützen.“

Im Auto schaue ich die ganze Zeit zum Himmel, da hat sich etwas verändert. Ich komme nicht darauf, was es sein könnte, aber es fühlt sich sehr gut an. Wagner bemerkt mein angestrengtes Nachdenken.
„Das ist die Sonne. Sie scheint.“
Ich erinnere mich dunkel, davon gelesen zu haben.
„Das wurde jetzt im ganzen Bundesgebiet eingeführt, um die Geburtenrate zu erhöhen: Es regnet nicht mehr.“
Ich glaube, ich kann mich daran gewöhnen.
„Die Sache ist die“, sagt Wagner und dreht das Radio leiser, „ich und die Jungs wollen ja jetzt Karriere machen. Du weißt schon: Schick sein, fette Autos, Geld wie Heu und koksen. Raus aus dem verlorenen Leben in der Kleinstadt. Wir haben uns neulich getroffen und nachgedacht, wie man reich werden könnte. Jango hatte dann auch gleich eine Superidee: Wir haben viel Geld von der Bank geliehen und als versicherte Sendung verschickt – an deine Adresse, aber keine Angst, du hättest davon nichts mitbekommen. In Schritt 2 unseres Plans wollten wir dann den Postboten überfallen und ihm das Geld abnehmen. Wir hätten dann das Geld und die Post würde uns trotzdem eine Entschädigung geben. Mit der hätten wir dann den Kredit zurückgezahlt.“
„Ein guter Plan.“
„Ja, nicht wahr?“ Wagner fährt wie ein Irrer, „leider ist etwas schief gelaufen. Genauer gesagt: zwei Dinge sind schief gelaufen.“
„Er hatte den Brief nicht dabei.“
„Richtig.“
„Was noch?“
„Wir haben ihn ein bisschen … wie soll ich sagen? ... beschädigt.“
Unwillkürlich male ich mir aus, was bei Wagner „beschädigt“ bedeuten könnte.
„Und wieso kommst du jetzt zu mir?“
Wagner, der kleine drahtige Wagner, Wagnerino, Wagnercello, der nicht nur größere, der mehr Muskeln hat als andere Menschen, schluckt unwillkürlich.
„Naja. Weil wir dachten, dass dir schon was einfällt.“

Wir biegen um eine Häuserecke, dahinter ist schon Mickeys Wohnung. Doch wir können nicht weiterfahren, denn um den Block herum steht eine Polizeisperre. Wagner erbleicht. Ein Staatsbeamter in grüner Uniform tritt an das Auto, Wagner kurbelt das Fenster herunter.
„Sofort umkehren! Hier geht’s nicht weiter!“
„Was ist los, Herr Wachtmeister? Ich muss das wissen, ein Freund von mir wohnt da!“
„Ein Typ mit einer Waffe hat sich im Keller eingeschlossen. Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen.“
Genaueres will ich auch gar nicht wissen. Ich blicke noch mal auf den verloren dreinschauenden Wagner und steige aus.

Ich überlege, wo ich jetzt hingehen könnte. Mir fällt Andys Kneipe ein, die ist hier gleich um die Ecke.
Als ich loslaufe, regnet es wieder. Im Rinnstein neben mir schwimmt ein Brief.
Dann noch einer.
Dann eine Postkarte.

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